Künstlerische Residenzen
Auf Grundlage eines Arbeitsvorhabens bietet das Kulturbüro immer wieder Künstler*innen Zeit und Raum für künstlerische Recherche und Produktion in Ludwigshafen.
Ziel ist eine enge Verbindung von künstlerischer Praxis, Produktion und die Vernetzung mit lokalen Kulturschaffenden. Zum Abschluss der Residenz präsentieren die Künstler*innen ihre Ergebnisse. Je nach Bedarf und Projekt geht die Zusammenarbeit dabei von der reinen Überlassung von Räumen und Infrastruktur bis zur gemeinsamen Projektentwicklung.
Roxana Küwen Arsalan
Roxana Küwen Arsalan ist Zirkusartistin, Jongleurin, Trapezkünstlerin und Zirkusforscherin deutsch-iranischer Herkunft. Sie lebt in Frankreich und Deutschland und tourt international in Zirkussen, Kabaretts und Festivals.
Roxana Küwen Arsalan, 1989 in Norddeutschland geboren, absolvierte 2013 die Fontys Academy for Circus and Performance Art in Tilburg, Niederlande. In ihrem zweiten Studienjahr spezialisierte sie sich auf statisches Trapez und Fußjonglage. Im Rahmen der Open Summer Stage 2021 war sie auf dem Karl-Kornmann-Platz in dem Fußjonglagestück "Play Nice" zu erleben.
Während ihrer künstlerischen Residenz in Ludwigshafen vom 26. August bis 2. September 2022 probte sie an ihrem neuen Stück "Omâ". "Omâ" ist ihr erstes Stück unter dem Namen der Compagnie بلبل Bolbol. Narrativer Fokus sind ihre deutsche Oma und die iranische Mâdarjun (Kosename für Großmutter väterlicherseits).
Roxana Küwen Arsalan: "Mit diesem Stück positioniere ich mich als 'Künstlerin mit Migrationshintergund', um gleichzeitig genau diese Kategorie in Frage zu stellen. Ich bin Zirkusartistin und Performerin deutscher und iranischer Herkunft, heute in Frankreich lebend. In meinem bisherigen (Berufs-)Leben habe ich mich und wurde ich auf die 'deutsche' Künstlerin reduziert, bedingt und vereinfacht durch mein "typisch deutsches" Aussehen und den damit einhergehenden Privilegien. Dieser Reduktion etwas entgegenzusetzen, ist für mich nicht nur von persönlichem Interesse, sondern von gesellschaftlicher Relevanz: Das Spiel mit den Zuschreibungen, Kategorien und Klischees stellt Sehgewohnheiten in Frage und kann so Platz schaffen außerhalb der Schubladen und vielfältigen Identitäten gerecht werden."
Beim Internationalen Straßentheaterfestival Ludwigshafen 2023 feierte das Stück "Omâ" seine Vorpremiere.
Olga Bragina
Die Autorin und Übersetzerin Olga Bragina aus der Ukraine war von April bis Juli 2022 Künstlerin in Residenz des Kulturbüros Ludwigshafen. Die Residenz kam in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation "Artists at Risk" zustande, welche Künstler*innen unterstützt, die von Unterdrückung, Krieg oder Terror bedroht sind. Olga Bragina hat vier Gedichtbände veröffentlicht, eine Prosasammlung und einen Roman. In einem Interview sprach sie mit uns über ihre Arbeit, aber auch ihre Beziehung zur russischen Sprache und zu jenen Bezugspersonen, die bis heute in der Ukraine verblieben sind.
Das Interview spiegelt Olga Braginas Positionen und Erfahrungen wider. Wir führten es am 15. Juni 2022.
Interview mit Olga Bragina
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Wie fühlen Sie sich damit, in Altrip zu sein?
Es ist eine sehr gemütliche Kleinstadt, die 369 von Römern am Rhein erbaut wurde. Es gibt hier viele Blumen und viele Menschen haben Haustiere; die Leute hier wissen, dass wir Ukrainerinnen sind und heißen uns willkommen; das ist angenehm.
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Haben Sie es geschafft, sich einzugewöhnen? Was hilft Ihnen dabei, was macht dies schwierig?
Familie Pinner-Antoni hat uns in ihrem Haus aufgenommen, nachdem das Kulturbüro uns nach Deutschland eingeladen hatte. Dies war gemessen an der Kriegssituation sehr hilfreich für uns.
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Haben Sie nach wie vor Kontakt zu Freund*innen und Familie in der Ukraine? Wie geht es ihnen?
Mein Vater und Bruder leben in Kiew und gehen zur Arbeit. Viele Freund*innen sind Freiwillige und helfen dem Militär, manche von ihnen sind Soldaten geworden.
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Welchen Eindruck haben Sie von der kulturellen Infrastruktur in Ludwigshafen und der Region?
Es gibt hier eine sehr aktive Infrastruktur; die Leute interessieren sich sehr für Literatur: Zum Beispiel mochte ich den Poetry Slam im Kulturzentrum dasHaus am 30. April. In unserem Dorf Altrip gibt es eine Kunstgalerie.
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Schreiben Sie Gedichte und Prosa oder fokussieren Sie sich auf Gedichte? Was haben Sie bislang veröffentlicht?
Ich schreibe Gedichte, habe aber auch den Roman “Die Pelikane” auf Ukrainisch verfasst. Insgesamt habe ich vier Gedichtbände veröffentlicht, eine Prosasammlung und einen Roman.
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Wann fingen Sie an, zu schreiben, und was brachte Sie dazu?
Ich fing während der Schulzeit an, zu schreiben, wobei ich es spannend fand, Reim und Handlung miteinander zu kombinieren. Heute schreibe ich hauptsächlich in freien Versen, ohne dass sich meine Gedichte an irgendein Schema halten.
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In welchen Sprachen schreiben Sie?
Ich schreibe auf Russisch und Ukrainisch.
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Wer sind Ihre Vorbilder?
Eventuell ist Zinaida Gippius mein Vorbild: eine Poetin, Prosa Autorin, Kritikerin und Feministin. Sie emigrierte vor hundert Jahren nach Europa; letzte Woche haben wir Wiesbaden und den Berg besucht; dort in der Nähe lebte sie in einem Hotel.
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Gibt es eine Inspirationsquelle für Ihre Gedichte?
Früher wurde ich durch Literatur und Weltkultur inspiriert, aber heutzutage ist meine Hauptinspirationsquelle die Realität.
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Was genau geschieht, wenn Sie Gedichte verfassen? Welchen Ansatz haben Sie dabei? Könnten Sie diesen Prozess skizzieren?
Ich bekomme eine Idee und entwickele diese dann. Wenn ich anfange, ein Gedicht zu verfassen, weiß ich noch nicht, wie dieses enden wird: Das Gedicht erschafft sich selbst.
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Übersetzen Sie Ihre Gedichte selbst ins Englische?
Nein, meine Gedichte werden von anderen Poet*innen und Übersetzer*innen übersetzt.
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Haben Sie zu Ihren Gedichten Reaktionen von Ihren Leser*innen erhalten?
Ich bekomme in erster Linie Reaktionen über das Internet, vor allem Facebook.
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Wie viele Menschen in der Ukraine sprechen Russisch?
Vor dem Krieg lag der Anteil bei 47 Prozent, aber aktuell ändern viele Menschen ihren Bezug zum Russischen.
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Wie gestaltet sich Ihre Beziehung zum Russischen und Ukrainischen? Hat Ihre Beziehung zu diesen Sprachen sich seit Kriegsbeginn/Invasionsbeginn gewandelt?
Dies sind trotz irgendwelcher verrückter Diktatoren beides meine Muttersprachen. Die russische Sprache gehört nicht allein der Russischen Föderation.
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Welche Hoffnungen haben Sie für die Zukunft?
Meine größte Hoffnung ist, dass der Krieg sobald wie möglich endet, und zwar mit unserem Sieg.
Auszug aus dem Werk von Olga Bragina
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Russisches Original (Kiew, 2016)
зачем тебе помнить Киев восьмидесятых
белые стены церквей стерильно чистые окна
пустота молчание белый цвет бинтов первая свежесть асфальта
горячего асфальта среднепрожаренного битума
зачем тебе помнить где эта газировка без воды пирожные безе чистотела
ты застрянешь здесь навсегда будешь перебирать старые фото вот ты до рождения
пробираешься мимо героев революции теплых столпов самодержавия родимых осин
зачем тебе помнить Киев теперь столько не живут не любят мертвых не рвут тетради
мутную взвесь подольского масла Аннушка разлила
зачем тебе помнить кто жил в этом доме любимого цвета императора Николая
рассказывал сказки дворникам рассказывал сказки друзьям
детства не признавшим через столько лет никто не помнит тебя
здесь проходит демаркационная линия жизнь под местным наркозом
то чему нет названия но зачем тебе помнить Киев восьмидесятых разделять на до и после
часослов герцога Беррийского загибать страницы стачивать корешки
любовь не лжет не милосердствует не заканчивается не начинается только горячий асфальт
дефицит желудей картофельных очистков воды из крана
морской соли для ванн счастливых людей в метро
зачем тебе помнить -
Deutsche Fassung aus dem Englischen von Viktoria Helene Ong
ich wüsste nicht, wieso du dich an das kiew der 1980er jahre erinnern solltest:
die weißen mauern, die sterilen fenster der kirche,
die hohle Stille, die fetzen weißer bandagen und frischer asphalt
aus noch heiß brennender halbfertiger bitumenmasse.
wieso du dich an den leeren sprudelwasser automaten erinnern solltest, diese butterblumen und den baiser.
du wirst auf ewig darin verharren, durch alte fotos zu blättern: hier ist eines von dir direkt vor deinem geburtstag.
an den helden der revolution, an den warmen säulen der autokratie, schleichen die symbole des heimatlandes vorbei.
ich wüsste nicht, wieso du dich an kiew erinnern solltest, nun da niemand lebt, um die toten zu lieben oder notizbücher zu zerreißen.
und an das trübe öl des stadtteils podol, das annushka vergossen hat.
ich wüsste nicht, wieso du dich an das haus erinnern solltest, das kaiser nikolais lieblingsfarbe hatte.
diejenigen, die dem hausmeister und kindheitsfreunden geschichten erzählten,
die erkannten dich, erinnerten sich nach all‘ diesen jahren vielleicht auch nicht an dich.
hier vergeht ein demokratisches leben in lokalanästhesie.
etwas mit keinem anderen namen als: „wieso du dich an das getrennte kiew der 1980er jahre erinnern musst“, das zwischen vorher und nachher unterteilt ist
wie gefaltete Seiten im buchrücken von herzog von berrys Stundenbuch.
liebe ist rastlos und unfreundlich, sie endet oder beginnt nicht. nur der brennende asphalt,
die fehlenden kartoffelschalen, eicheln und leitungswasser,
fehlendes badesalz und optimistische leute in der U-Bahn – beginnen.
ich wüsste nicht, wieso du dich erinnern solltest.Kommentar: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die im Original nicht vorhandenen Satzzeichen im Deutschen zu ergänzen, um den Lesefluss und das Verständnis des Gedichtes zugänglicher zu gestalten. Um dennoch einen vergleichbaren Effekt zu erzielen, haben wir konsequent alle Großbuchstaben durch Kleinbuchstaben ersetzt.